BIOGRAPHIE

Rudolf Buchbinder zählt zu den legendären Interpreten unserer Zeit. Die Autorität einer mehr als 60 Jahre währenden Karriere verbindet sich in seinem Klavierspiel auf einzigartige Weise mit Esprit und Spontaneität. Tradition und Innovation, Werktreue und Freiheit, Authentizität und Weltoffenheit verschmelzen in seiner Lesart der großen Klavierliteratur.

Als maßstabsetzend gilt er insbesondere als Interpret der Werke Ludwig van Beethovens. Über 60 Mal führte er die 32 Klaviersonaten auf der ganzen Welt bisher zyklisch auf und entwickelte die Interpretationsgeschichte dieser Werke über Jahrzehnte weiter.

Mit der Edition BUCHBINDER:BEETHOVEN veröffentlichte die Deutsche Grammophon im Herbst 2021 im Vorfeld von Buchbinders 75. Geburtstag eine Gesamtaufnahme der 32 Klaviersonaten sowie der fünf Klavierkonzerte und setzt damit zwei herausragenden Buchbinder-Beethoven-Zyklen der jüngsten Zeit ein klingendes Denkmal. Als erster Pianist spielte Buchbinder bei den Salzburger Festspielen 2014 sämtliche Klaviersonaten Ludwig van Beethovens innerhalb eines Festspiel-Sommers. Der Salzburger Zyklus wurde live für DVD mitgeschnitten (Unitel) und liegt nun auch auf neun CDs vor.
Der aufsehenerregende Zyklus der fünf Klavierkonzerte Ludwig van Beethovens entstand in der Konzertsaison 2019/20 im Wiener Musikverein. Anlässlich seines 150-jährigen Jubiläums gab der Wiener Musikverein mit Rudolf Buchbinder einem einzelnen Pianisten die Ehre, erstmals in der Geschichte des weltberühmten Hauses alle fünf Klavierkonzerte Ludwig van Beethovens in einer eigens aufgelegten Serie aufzuführen. Buchbinders Partner waren das Gewandhausorchester Leipzig unter Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons, die Wiener Philharmoniker unter Riccardo Muti und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, die Münchner Philharmoniker und die Sächsische Staatskapelle Dresden unter ihren Chefdirigenten Mariss Jansons, Valery Gergiev und Christian Thielemann. Alle Konzerte wurden live aufgenommen. Der im September 2021 auf drei CDs veröffentlichte Musikvereins-Zyklus ist ein historisches Dokument dieser künstlerischen Gipfeltreffen und eine Hommage an Buchbinder als einen der profundesten Beethoven-Interpreten unserer Zeit.

Auf seinem neuen Album Soirée de Vienne, das im November 2022 bei Deutsche Grammophon erschien, empfindet Rudolf Buchbinder eine Wiener Abendgesellschaft nach und vereint Komponisten, die auf das Engste mit Wien verbunden sind - wie er selbst. „Die Freiheit im Moment, der Luxus intelligenter Naivität und die Neugier am Augenblick - all das macht Musik erst lebendig“, so Rudolf Buchbinder. Das Album ist ein in Klang gegossenes Lebensgefühl.

Als Beitrag zum Beethoven-Jahr 2020 initiierte Rudolf Buchbinder einen Zyklus neuer Diabelli-Variationen. In Anlehnung an die Entstehungsgeschichte von Beethovens epochalen Diabelli-Variationen op. 120 gelang es, mit Lera Auerbach, Brett Dean, Toshio Hosokawa, Christian Jost, Brad Lubman, Philippe Manoury, Max Richter, Rodion Schtschedrin, Johannes Maria Staud, Tan Dun und Jörg Widmann elf führende zeitgenössische Komponisten verschiedener Generationen und Herkunft zu gewinnen, ihre persönlichen Variationen über dasselbe Walzer-Thema zu schreiben wie einst Beethoven. So entstanden elf Neue Diabelli-Variationen, die ihre Uraufführung durch Rudolf Buchbinder im Wiener Musikverein erlebten und ein Bestandteil seiner Tournee-Programme in Europa, Asien und den USA geworden sind. Elf Konzerthäuser weltweit fungierten mit Unterstützung der Ernst von Siemens Musikstiftung als Auftraggeber. Das Projekt spiegelt Beethovens Werk ins 21. Jahrhundert und vergegenwärtigt auf eindrückliche Weise die Universalität von Beethovens Musik über alle Grenzen hinweg. Unter dem Titel "The Diabelli Project" veröffentlichte die Deutsche Grammophon im März 2020 die Weltersteinspielung der Neuen Diabelli-Variationen in Verbindung mit einer Neu-Aufnahme von Beethovens Diabelli-Variationen, die Buchbinder zuvor 1976 zuletzt eingespielt hat. Das Doppel-Album bildete den Auftakt seiner exklusiven Partnerschaft mit der Deutschen Grammophon. Ebenfalls 2020 folgte eine Live-Aufnahme des 1. Klavierkonzerts von Beethoven mit Christian Thielemann und den Berliner Philharmonikern.

Rudolf Buchbinder ist Ehrenmitglied der Wiener Philharmoniker, der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, der Wiener Konzerthausgesellschaft, der Wiener Symphoniker und des Israel Philharmonic Orchestra. Er ist der erste Solist, dem die Sächsische Staatskapelle Dresden die Goldene Ehrennadel verlieh.

Größten Wert legt Buchbinder auf Quellenforschung. Seine private Notensammlung umfasst 39 komplette Ausgaben der Klaviersonaten Ludwig van Beethovens sowie ein umfangreiches Archiv von Erstdrucken, Originalausgaben und Kopien der eigenhändigen Klavierstimmen beider Klavierkonzerte von Johannes Brahms. 

Als Künstlerischer Leiter verantwortet er das Grafenegg Festival, das seit seiner Gründung vor 15 Jahren zu den einflussreichsten Orchesterfestivals in Europa gehört.

Rudolf Buchbinder hat eine Autobiographie mit dem Titel „Da Capo" veröffentlicht sowie das Buch „Mein Beethoven – Leben mit dem Meister". Sein neuestes Buch „Der letzte Walzer“ erschien zur Uraufführung der Neuen Diabelli Variationen im März 2020 und erzählt 33 Geschichten über Beethoven, Diabelli und das Klavierspielen.

PORTRÄT

„Das größte pianistische Naturtalent“ - Ein Porträt von Joachim Kaiser

Als Rudolf Buchbinder, er erzählt es heiter, im Münchner Hotel „Vier Jahreszeiten“ einmal Friedrich Gulda begegnete, da fand zwischen den beiden Künstlern – die sich als Pianisten hoch schätzten – ein durchaus charakteristisches Gespräch statt. Auf Guldas Frage, wohin er gehe, antwortete Buchbinder wahrheitsgemäß: „Ins Konzert zu meinem Beethoven-Zyklus.“ Darauf Gulda: „Sag einmal, ist dir der Beethoven net schon fad?“ Das aber kommentierte Buchbinder nun folgendermaßen: „Die Frage ist mir, ehrlich gesagt, völlig unverständlich, denn ich entdecke immer wieder etwas Neues in solchen Meisterwerken …“ Allzu skeptische Leser mögen das für ein bloßes Lippenbekenntnis halten, obschon Buchbinder sich in seinem Erinnerungsbuch mehrfach in dieser Weise äußert. „Man kann sich an manchen Speisen möglicherweise abessen. Aber niemals an den Meisterwerken der Klavierliteratur ‚abspielen‘, auch nicht wenn man sie Hunderte Male aufgeführt hat“, heißt es einmal. Bewegend idealisch klingt Buchbinders Bekenntnis: „Ich strebe an, am Ende meines Lebens den Höhepunkt meiner pianistischen Laufbahn zu erleben. Natürlich weiß ich nicht, wann das sein wird … Eigentlich schade! In meinem Beruf hat man nämlich in Wahrheit niemals etwas erreicht – es gibt immer noch Steigerungen.“

Wer Buchbinder lange und aus der Nähe kennt, weiß sehr wohl, alle diese Feststellungen sind pure Aufrichtigkeit! Ich habe mit meinem Freunde „Rudi“ jahrelang seine Beethoven-Zyklen moderiert, beim Schleswig-Holstein-Festival, in Dortmund/Bochum, in Nürnberg … Das heißt, ich analysierte einleitend jede Sonate, bat ihn dabei um mannigfache Zitate. Und dann endlich trug er das Werk im Zusammenhang vor. So erlebte ich wirklich hautnah, wie sich die Sonaten in Buchbinders Seele kontinuierlich weiterentwickelten, bereicherten, verwandelten. Nicht so sehr, doch auch, was das Pianistische, Manuelle angeht. Wohl aber im Hinblick auf Tiefe und Gehalt. Was ich ihm dabei zumutete, machte ich mir kaum hinreichend klar. Einmal, es ging um die „Hammerklaviersonate“ op. 106, redete ich fast 50 Minuten lang. Er aber durfte nicht ruhig vor sich hinträumend dabei sitzen, sondern musste gespannt aufpassen, weil ja immerfort Zitate von ihm erbeten wurden, um dann letztendlich nach diesem anstrengenden Diskurs die wohl schwerste Sonate der Klavierliteratur komplett darzubieten.

Die Frage, warum große Musik einen Interpreten lebenslang fesseln kann, selbst wenn ihm nichts anderes vorschwebt, als die Kompositionen „nur“ werktreu zu verlebendigen, ohne ihnen Gewalt anzutun – diese Frage kann folgendermaßen beantwortet werden: In bedeutungsvoller Klassik steckt ein Reichtum an nuancierten seelischen Gestalten, Bekundungen, Erlebnissen und Einsichten, von dem amusische Zeitgenossen kaum etwas ahnen. Solche Musik gleicht einem unendlichen Reservoir emotionaler Erfahrung! Sie lehrt uns, immer Zarteres, Verästelteres, Differenziertes wahrzunehmen. Mendelssohn hatte schon recht, als er einmal feststellte, Musik sei nicht etwa begriffslos-vage und nationale Sprache konkret klar. Sondern in Tönen gäbe es unendlich mehr Zwischenstufen gestalteter Gefühle, als Worte existieren, all diese Schattierungen zu benennen. Und damit nimmt es ein großer Pianist auf.

Um nun die Aufgaben zu bewältigen, wie sie von den Werken der traditionellen Kunst und der „klassischen Moderne“ gestellt werden, helfen Rudolf Buchbinder einige bemerkenswerte künstlerische und menschliche Besonderheiten. Zunächst: Er ist für mich das größte pianistische Naturtalent, dem ich in meinem Leben begegnet bin. Er braucht sich nie Fingersätze zu notieren, tut es auch nicht, selbst bei heikelsten Schwierigkeiten! Die Finger finden es schon von selbst. Darauf kann er beneidenswerterweise fest vertrauen. So sagt er hier: „Es gibt drei Arten von Fingersätzen: den, den man studiert, den, den man den Kollegen empfiehlt, und den, den man beim Konzert erwischt.“ Das Verbum „erwischt“ verrät staunenswert, wie selbstverständlich Buchbinders Naturtalent funktioniert. Solche Begabung könnte verführen zu Leichtfertigkeit. Doch dazu sind ihm die Kompositionen zu heilig, zu lieb. So kam es zur zweiten Besonderheit: Respektvoll und pedantisch genau studiert Buchbinder Urtextausgaben, sucht und findet Fehler, nimmt nichts für gegeben. Seine vielleicht wichtigste, aber keineswegs spektakulärste dritte Eigentümlichkeit: Er ist völlig frei von jedem Manierismus. Es ist kaum möglich, irgendeine „Manier“ bei ihm auszumachen. Irgendeinen hilfreichen Tick oder auch Trick, der die Künstler-Persönlichkeit vor das Werk schiebt. Was er interpretierend tut, wenn er mit cantablem, innigem Ton Mozart-Konzerte meistert, wenn er beim dramatischen Dialog im Andante des G-Dur-Konzertes von Beethoven die ergreifend schmerzlichen Antworten des Klaviers um eine zögernde Hundertstelsekunde zu spät zu bieten scheint, worin sich so viel Beklommenheit, Angst, Schmerz verbirgt – es kommt immer ganz aus der Sache. Seine elementare, musikantisch-musikalische Freiheit von allen Manierismen macht ihn empfindlich für feine oder derbe Übertreibungen mancher seiner Kollegen. So ist es mittlerweile, seit Swjatoslaw Richter einst Schuberts große B-Dur-Sonate aberwitzig expressiv langsam vortrug, beinahe Mode geworden, Schuberts traurige Andante-Sätze als Adagios oder gar Largos zu forcieren, um ihre Depressivität zu verdeutlichen. Doch die pianistischen Adagio-Hohepriester machen sich nicht klar, wie sehr sie damit Schuberts eigentümliche Wahrheit verfehlen. Bei ihm gibt es nämlich ein mutloses Andante-Schlendern, das gerade kein gewichtiger Adagio-Trauermarsch, gerade kein pathetisches Largo sein darf – und in seiner schwebenden Verzweiflung ungeheuer schwer zu treffen ist. In einer solchen Aura depressiven Schlenderns soll das erste Lied der „Winterreise“, beginnen, der zweite Satz der Großen C-Dur-Symphonie („Andante con moto“), müssen die Mittelsätze der Großen A-Dur-Sonate (DV 959) und eben der mysteriösen B-Dur-Sonate (DV 960) anheben. Einzig der langsame Satz der c-Moll-Sonate (DV 958), wo Schubert offenbar bewusst auf Beethoven anspielt, ist tatsächlich dem Typus nach eines jener As-Dur-Adagios, wie der junge Beethoven sie gern komponierte.

Bei der Aufzählung von Buchbinders bemerkenswerten Besonderheiten habe ich die – vielleicht seltenste – vergessen: es ist seine vollkommene Un-Eitelkeit. Dazu muss er sich nicht „zwingen“, das ist keine Sympathie heischende Bescheidenheits-Pose. Sondern er kann nicht anders. Feierliche Aufgeblasenheit, wildes Bedeutungs-Gehabe liegt ihm nicht, widersteht ihm. Sachlich und freundlich gibt er Antwort. Gewiss ließe er auch gerne darüber streiten, ob es wirklich zutreffend ist, zeitgenössische U-Musik, Pop-Musik und traditionelle E-Musik als gleichartige Form der Unterhaltung nebeneinander zu stellen. Natürlich kann es entzückende U-Musik und todlangweilige Symphonien geben. Doch die jeweiligen Qualitäten oder Schwächen haben nichts miteinander zu tun. Große traditionelle Musik nimmt doch die unvergleichliche Geschichte der E-Musik-Sprache, die sich in Jahrhunderten differenziert hat, in sich auf. Bachs h-Moll-Messe bewahrt in sich eine riesige Geschichte der Kirchen-Musik, Beethovens Sonate op. 110 reicht mit Rezitativ und „Johannes-Passion“-Arioso weit zurück, Wagners „Meistersinger“ und sein „Parsifal“ tun es auch. Noch so gelungene Manifestationen effektvoller Film-Musik oder Schlager-Produktion haben völlig andere Qualitäten. Oder nicht? Diskutieren würde ich auch gern über Buchbinders Meinung, wer Bach auf dem Steinway spielt, soll keineswegs versuchen, auf einem modernen Klavier historisch spielen zu wollen.

Letzte Frage: Was steckt eigentlich hinter Buchbinders Scheu, eigene Aufnahmen, nachdem sie sich von ihm abgelöst haben, überhaupt nicht mehr hören zu können, zu wollen? Handelt es sich dabei um nahezu übermenschliche Un-Eitelkeit? Oder fürchtet er gar, sich seiner frei strömenden Kunst zu berauben, wenn er ihr im akustischen Spiegel begegnet?

Joachim Kaiser (2004)

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